Das Gala Magazin fragt Coach und Autorin Martina Leisten.
Jedes Jahr aufs Neue löst Weihnachten in vielen Menschen Stress aus. Woran liegt das?
Während man sich als Kind wie ein Schneekönig bereits mit dem Öffnen des 1. Türchen vom Adventskalender auf das Weihnachtsfest freute, versiegt dieses schöne Gefühl im Erwachsenenalter oft wie ein Rinnsal in der Wüste. Das ganze Drumherum, das früher von Eltern oder Lehrern organisiert wurde, müssen wir jetzt selbst in die Hand nehmen. Und stellen fest, dass es uns häufig schon Ende August beim Anblick der ersten Lieferung Marzipankartoffeln und Lebkuchen im Supermarkt davor graut, was uns bis Weihnachten noch alles an Aufgaben bevorsteht. Weihnachtliche Dekoration der Wohnung, Plätzchen backen, Geschenke besorgen oder diverse Weihnachtsfeiern sind häufig feste Punkte im Terminkalender, die uns Weihnachten einstimmen sollen. Stattdessen führen sie bei vielen Menschen statt zu Vorfreude zu dem Gefühl von Stress, Überforderung oder gar Ablehnung. Ein festes Datum, an dem sich alle in Liebe und Dankbarkeit in einem schönen Ambiente in die Arme fallen sollen, hat eben auch einen gewissen „Muss-Faktor“. „Müssen“ und „Sollen“ führen dabei bei vielen Menschen als Aufforderungen des sogenannten „inneren Antreibers“ zu dem Gefühl von Stress. Man erhält das Gefühl, dass etwas von einem verlangt wird und man etwas zu erfüllen habe. Hierdurch wird man dann mit der Frage konfrontiert, ob und wie man das alles schaffen kann. Und das löst oft das Gefühl von Unzulänglichkeit aus und führt wiederum dazu, wie ein gehetzter Stier von Termin zu Termin zu rennen. Dann ist er da: Der Stress.
Was passiert dabei mit unserem Körper/Geist?
Der Stress, der sich besonders in der Weihnachtszeit von Außen an uns richtet oder den wir uns selbst in unserem Inneren erschaffen, löst zunächst physiologische Reaktionen wie das Ausschütten von Stresshormonen aus. Dies wiederum kann dann dazu führen, dass wir buchstäblich unter Strom stehen und dadurch schlecht abschalten können oder gereizt reagieren. Wir fühlen uns dann manchmal auch einfach überfordert, bekommen ein schlechtes Gewissen und würden manchmal gerne diesen ganzen „Weihnachtsquatsch“ hinter uns lassen und dem ganzen auf die Kanaren entfliehen. Kurzum, Körper und Geist können in einen Ausnahmezustand geraten. Das, was uns vor Jahrtausenden dazu verhalf, in Gefahrensituationen vor einem wilden Tier zu fliehen, hält nunmehr unser Nervensystem auf Dauerspannung. Da Körper und Geist eine Einheit bilden, sind die Reaktionen auf Stress fast immer auf beiden Ebenen spürbar. Wer unter Stress steht, macht sich häufig nicht nur selbst viele Vorwürfe oder steckt in einer Grübelspirale sondern merkt zusätzlich auch am knirschenden Kiefer oder verspannten Nacken, das ihn da etwas beschäftigt. Wir vergessen zu essen oder uns Pausen zu gönnen und halten hierdurch die Stressspirale aufrecht. Bewusste Auszeiten, um das System überhaupt wieder runterfahren zu können, achtsame Wahrnehmung und Verarbeitung von Situationen sind dann ebenso wichtig wie Änderungen des eigenen Verhaltens. Nein Sagen oder Gefühle ausdrücken lernen sind beispielsweise wichtige Schritte, um langfristig dem Stress zu entkommen und Körper und Geist langfristig wieder in Balance zu bringen.
Gerade in Sachen Geschenke herrscht viel Druck. Schließlich möchte man rechtzeitig alles beisammen haben und dazu noch sein Gegenüber positiv beeindrucken. Welche Tipps haben Sie hier?
Durch Geschenke möchte man seinem Gegenüber seine Aufmerksamkeit, Wertschätzung oder Liebe signalisieren. Hier ist der Erwartungsdruck oft besonders hoch. Gerade dann, wenn man im Vorjahr vom Liebsten ein ganz besonderes Geschenk erhalten hat, möchte man ihm nicht nur mit einem lapidaren Sechserpack Boxershorts gegenübertreten. Sich der eigenen Erwartungen und der des Gegenübers bewusst zu werden ist ein erster Schritt: „Wird das wirklich von mir erwartet oder vermute ich das nur?“ bzw. „Was erwarte ich eigentlich von mir selbst?“. Hierdurch gelangt man dann in die aktive Position, die Situation zu reflektieren und selbst eine Entscheidung treffen zu können. Auch die Frage „Ist ein teures Geschenk wirklich wertvoller als ein Individuelles, mit viel Liebe gestaltetes?“ könnte an dem Punkt wichtig sein.
Das Vergleichen mit anderen ist in diesem Zusammenhang auch ein wichtiger Faktor, der zu Stress führt. Wer sich fragt: „Wie stehe ich denn da, wenn meine Freunde mitkriegen, dass ich meiner Frau nicht ihren Wunsch vom Diamantring erfüllen konnte?“ macht sich im Selbstwert abhängig von den Meinungen anderen. Sich darüber bewusst zu werden und sich davon zu befreien ist gerade bei Weihnachtsgeschenken enorm hilfreich. Man kann sich abschließend auch fragen: „Worum geht es mir eigentlich beim Schenken?“ Hierbei hilft es auch, sich zu erinnern, über welche Geschenke man sich selbst ganz besonders gefreut hat. Da erinnert man sich dann vielleicht, dass der gerahmte Schnappschuss aus dem letzten Urlaub besser ankam als die teure Armbanduhr, die immer noch ungenutzt in der Schublade liegt.
Viel Druck herrscht auch bei den Gastgebern, die Weihnachten Familie und Freunde in Empfang nehmen. Wie ist ihnen geholfen?
Ähnlich dem Druck beim Schenken ist die Gastgeberposition prädestiniert für (un)ausgesprochene Erwartungen. Man denkt, die Oma wolle so wie jedes Jahr unbedingt den Eierlikör trinken, obwohl diese sich immer fragt, wer auf die Idee gekommen sei, sie möge dieses Getränk. Oder man vermutet, dass die Anwesenden nichts besseres zu tun haben, als ähnlich einem Tatortermittlungsteam mit Ultraviolettlicht im Bad nach ungeputzten Stellen Ausschau zu halten. Solche Gedanken dann auch zuende zu denken, kann nicht nur zu Lachern führen sondern auch dazu, dass man merkt, dass man selbst die Person ist, die sich am meisten unter Druck setzt. Auch hier lohnt es sich, sich in die Gäste hineinzuversetzen und sich zu fragen: „Achte ich auf all diese Dinge, wenn ich bei anderen zu Besuch bin?“ sowie „Hat jemals einer der Anwesenden etwas gesagt wie: Bei dir ist es so ungemütlich. Wenn du nicht jeden Staubfleck beseitigst kommen wir nie wieder?“ Und selbst wenn es so wäre, könnte man sich dann fragen: „Möchte ich, dass meine Gäste mir vorschreiben, wie es bei mir zuhause auszusehen hat?“
An diesem Punkt kommt häufig ein weiterer zum Vorschein: Das Gefühl, es allen Recht machen zu wollen. Wir wünschen uns gerade an Weihnachten sehr, dass es allen gut geht, möchten auf alle Bedürfnisse eingehen und für Harmonie und Wohlergehen sorgen. Da dies häufig zum Scheitern verurteilt ist oder nur mit einem enormen Kraftaufwand zu bewältigen ist, entsteht wiederum ein enormes Druckgefühl. Sich von dieser Belastung zu befreien kann dadurch gelingen, dass man sich erst einmal dessen bewusst wird, dass man dazu neigt, mehr auf andere als auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Um dann ganz bewusst die Situationen zu verändern, in denen man sich für andere verbiegt oder die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt. „Will ich wirklich mehrere Stunden am Stück weihnachtliche Chöre und Orgelmusik hören? Ist es wirklich schlimm, wenn der Keller nicht aufgeräumt ist, wenn die Gäste eh nur im Wohnzimmer sitzen? Muss ich wirklich drei verschiedene Essen anbieten, um auf jeden Extrawunsch einzugehen?“ Bei sich zu bleiben und die Bedürfnisse der anderen zu achten, nicht aber über die eigenen zu stellen, kann man insbesondere an Weihnachten sehr gut üben.
Warum neigen wir gerade an Weihnachten häufig zum Perfektionismus?
Weihnachten ist einfach etwas Besonderes. Die meisten haben schöne Kindheitserinnerungen daran oder sehen in den Medien, wie viel Mühe man sich mit diesem Fest gibt. Der beste Nährboden also, um seinen eigenen Perfektionismus vollends erblühen zu lassen. Denn wer will schon mit der Einstellung an den Heiligen Abend gehen, dass dies ein Tag wie jeder andere auch sei? Dass über dem ganzen Fest auch ein göttlicher Aspekt steht, verstärkt für Einige den Perfektionismus noch mehr. Aber auch diejenigen, die nicht religiös sind, verbinden mit diesem Ereignis vor allem eines: Harmonie! Zank und Streit haben einfach keinen Platz unterm Tannenbaum. Und doch oder gerade deshalb wird zu diesem Fest am häufigsten gestritten. Durch diesen besonderen Wunsch nach Harmonie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt erhöht sich der Druck. Denn wenn das dann nicht klappt, ist die Enttäuschung häufig groß und statt „Oh du Fröhliche!“ zu singen würden wir lieber „Herr, erbarme dich unser!“ beten.
Sich den eigenen Perfektionismus vor Augen zu halten und zu ändern kann man, indem man sich zunächst fragt: „Was würde passieren, wenn ich keine 100 Prozent sondern nur 80 geben würde?“ Man würde merken, dass die anderen es vielleicht gar nicht alles so streng sehen, wie man selbst. Man würde erkennen, dass es vor allem die eigene Angst vor der Enttäuschung der anderen ist, die einen dazu antreibt, an seine eigenen Grenzen zu gehen. Es gibt die unterschiedlichsten Motive für Perfektionismus. Seine eigenen herauszufinden, verhilft dazu, sich von ihnen lösen zu können. Und am Ende des Festes die Brotkrümel nicht vom Tisch einzeln auflesen zu müssen. Oder ohne schlechtes Gewissen die Spülmaschine erst am nächsten Morgen anzumachen.
Wie schaffen es Betroffene, ihre durch Stress ausgelöste Frustration nicht an anderen auszulassen und stattdessen gelassen zu bleiben?
Andere als Blitzableiter des eigenen Frusts zu benutzen ist häufig eine unbewusste Handlung. Man könnte auch sagen eine Art automatisierte Weiterleitung. Hierbei ist es wichtig, sich als erstes über genau diese Handlung bewusst zu werden. Das geschieht entweder durch Rückmeldungen anderer oder durch die eigene Beobachtung. Das Verstehen, warum ich meinen Frust an anderen auslasse ist der nächste Schritt. Denn ohne es zu wollen, gebe ich meine eigenen Schuldgefühle in veränderter Form wie z.B. durch Vorwürfe oder passiv-aggressives Verhalten weiter. Dann habe ich wenigstens einen Schuldigen, der nicht ich selbst bin. Denn würde ich mich selbst mit meinen eigenen Gefühlen der Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit auseinandersetzen, kämen eventuell die Gefühle hoch, die ich zu vermeiden versuche. Ich würde mich mit meinen eigenen Gefühlen wie Selbstzweifel, Wut, Scham, Ärger oder Enttäuschung beschäftigen. Dies wiederum würde mir dann aber auch dazu helfen, zu erkennen, dass die Weiterleitung meiner Gefühle nur eine Form der Verdrängung ist. Sich mutig mit sich und seinen eigenen ungeliebten Emotionen zu befassen verhilft dazu, den anderen gegenüber gelassen zu bleiben. Zu sagen „Ja, ich habe den Kartoffelsalat mal wieder total versalzen, weil ich in Gedanken ganz woanders war. Hut ab, dass ihr in trotzdem gegessen habt! Ihr seid die beste Familie, die man sich vorstellen kann!“ wäre beispielsweise eine gelassenere Reaktion als sich darüber zu beschweren, warum nicht ordentlich aufgegessen wurde, dass man kein Essen verschwenden dürfe und dass sich keiner der Anwesenden den Nachtisch verdient habe.
Wie können Angehörige jenen helfen, deren Psyche durch den Druck besonders leidet?
Nahestehenden Menschen helfen zu wollen, die unter Druck stehen, bedarf vor allem der Erkenntnis, dass diese Menschen auch eine Eigenverantwortung haben. Man kann sie vor allem darin unterstützen, sich selbst zu helfen. Wer nicht erkennt, dass er selbst auch einen eigenen Anteil daran hat, dass er unter Druck leidet, wird die Ursachen häufig nur im Außen suchen. Die ach so ungnädige Schwiegermutter oder den ewig nervenden Onkel wird man jedoch nicht ändern können. Man hat es aber selbst in der Hand, wie man mit deren Verhalten umgeht und ob man sich durch sie unter Druck setzen lässt oder nicht. Wenn ich lerne, sanfte Spitzen oder monotone Vorträge an mir abprallen zu lassen, sie also nicht persönlich zu nehmen, schaffe ich Distanz zwischen mir und meinem Gegenüber. Und erhalte Raum für meine eigene Meinung. Anhand dieser Position gelingt es dann leichter, sich weniger unter Druck setzen zu lassen.
Als Angehörige kann man dazu ermutigen, Situationen bewusster wahrzunehmen und zu reflektieren. Dies gelingt durch Fragen. „Glaubst du, Tante Elsbeth hat das wirklich so gemeint, wie du das jetzt empfindest?“ oder „Bist du dir wirklich sicher, dass Opa Heinz jetzt sauer ist, weil du ihm nicht seinen Lieblingspudding gekocht hast?“. Verständnis, Empathie und vor allem Geduld sind im Umgang mit anderen, die Druck empfinden besonders hilfreich. Gut gemeinte Ratschläge indes verstärken den Druck häufig noch mehr. Das Gegenüber fühlt sich dann noch unzulänglicher, obwohl man ihm eigentlich nur helfen möchte. Zuhören und Fragen Stellen hingegen nimmt den Druck aus der Situation und fördert die Reflektion bei demjenigen, der unter Druck leidet.